Wer regiert die Schweiz? So titelte Hans Tschäni (1983) seine Studie, die viel Aufsehen erregte. Tschäni kritisierte die wirtschaftlichen Kartelle, die Selbstaufsicht der Banken und die Verflechtung des Staates mit den Verbänden. Er beschrieb, wer mit welchem Auftrag im Parlament politisierte und wie die „Filzokratie“ demokratische Prozesse unterlief. Was Tschäni erhellte, zeigt sich auch heute. Das Finanzkapital und die Großindustrie verfügen über viel Macht. Es gelingt ihnen, Teile der politischen Legislative zu übergehen oder zu vereinnahmen. Und die Exekutive verhält sich oft schwach gegenüber wirtschaftlich Starken und stark gegenüber sozial Benachteiligten. Etliche Beispiele belegen diesen Befund. Gleichwohl wissen wir noch viel zu wenig über das Zusammenspiel zentraler Machtgefüge. Eine erste Annäherung versuchten wir in unserer Studie „Wie Reiche denken und lenken“ (Mäder, Aratnam, Schilliger 2010), die wir nun weiter vertiefen und auf die Frage konzentrieren, wer in der Schweiz seinen Einfluss wie wahrnimmt. Dabei interessiert auch, ob die Politik im Kontext der Finanzkrise und der Konzentration des Reichtums wieder eigenständiger agiert.
Ein Prozent der privaten Steuerpflichtigen verfügt heute in der Schweiz über mehr steuerbares Nettovermögen als die übrigen 99 Prozent (Credit Suisse 2010). Seit den 1980er-Jahren driftet die soziale Ungleichheit in der Schweiz stärker auseinander als in fast allen andern Ländern der Welt. Die Vermögen der 300 Reichsten stiegen (trotz Verlusten durch die Finanzkrise) von 86 Milliarden im Jahr 1989 auf 489 Milliarden Franken im Jahr 2011. (Bilanz, 2.12.2011) Schweizer Banken verwalten über 4‘000 Milliarden Franken private Vermögen. Gut die Hälfte davon kommt aus dem Ausland. Mit einem Marktanteil von 27 Prozent ist die Schweiz der größte Offshore-Finanzplatz der Welt. Ein Offshore-Finanzplatz ist eine Steueroase mit hoher Vertraulichkeit, aber wenig Aufsicht und Regulierung. Dabei erweist sich die politische Stabilität als zentral; zusammen mit der Verschwiegenheit und Bereitschaft einzelner Banken, Steuerhinterziehung zu akzeptieren. Die Schweiz nimmt bei den direkten Investitionen im Ausland mit 632 Milliarden Franken weltweit den vierten Platz ein. Und Schweizer Investoren spielen auf dem internationalen Markt für Hedgefonds eine zentrale Rolle. Hedgefonds verfolgen eine spekulative Anlagestrategie. Sie gehen für hohe Gewinne hohe Risiken ein. Jeder siebte Franken, der in London oder New York in Hedgefonds fliesst, kommt aus der Schweiz.
Mit der Verschärfung der internationalen Konkurrenz setzt sich in den 1980er-Jahre vermehrt der angelsächsische Neo-Liberalismus durch. Er forciert die Kapitalgewinne und die Rationalisierung der Produktion. Da es mit der Verteilung hapert, nimmt seither in der Schweiz die Erwerbslosigkeit zu. Zudem sinken die freien verfügbaren Einkommen bei einem Teil der niedrigen Lohnkategorien. Die untersten 25 Prozent der Einzelhaushalte hatten im Jahr 2008 real weniger Geld zum Leben als 1998. (Lampard/Gallusser 2011: 5) 400‘000 Arbeitnehmende haben heute bei einer 100 Prozent-Anstellung einen Lohn unter 4000 Franken im Monat (bzw. 22 Franken pro Stunde). Damit verschärft sich die soziale Brisanz. Die Schweiz oligarchisiert sich. Das schränkt demokratische Prozesse ein. Erhebliche Mittel fließen in Medien, Abstimmungen, Interessenverbände und (vornehmlich) bürgerliche Parteien. Die Finanz- und Wirtschaftskrise führt kaum dazu, mehr soziale Verantwortung wahrzunehmen. Die Finanz- und Großindustrie konzentrieren ihre Macht – auch global. Die Politik meldet sich zwar etwas stärker zurück. Sie tut dies aber eher unfreiwillig. Wenn die Wirtschaft weniger reüssiert, folgt der Ruf nach der Politik.
Nach dem Zweiten Weltkrieg tendierte der politisch liberale Kompromiss zwischen Kapital und Arbeit zu einem sozialen Ausgleich. Mit dem Aufschwung des angelsächsischen Neoliberalismus verkehrte sich dieser egalisierende Prozess. Seither konzentrieren sich der Einfluss der Großindustrie und der Banken. Und das demokratische Korrektiv ist nur beschränkt in der Lage, die Polarisierung bei den verfügbaren Einkommen und Vermögen zu begrenzen. Der Einfluss multinationaler Konzerne und Finanzinstitute manifestiert sich auch über Manager. Diese haben zwar nicht das Gewicht einer Bankiervereinigung oder einer Economiesuisse, sie sind aber sehr einflussreich. Einzelne Manager haben in den letzten Jahren an Macht zugelegt. Mit den Fusionen sind viele Unternehmen größer und von den Besitzstrukturen her komplexer geworden. Die erhöhte Konkurrenz erfordert mehr operative Durchschlagskraft. Die Rationalisierung der Produktion erfordert die Bereitschaft, rigoros Entlassungen vorzunehmen. Zudem sind Gewinnsteigerungen und hohe Dividenden gefragt. Das erhöht die Anforderungen an die Manager, die eigentlich Angestellte sind und in einem Lohnverhältnis stehen. Trotzdem fungieren sie oft als Eigentümer. Ihnen gehört ein beträchtlicher Anteil der Aktien. Zudem gehören viele Manager zu den Superreichen. Die Generaldirektoren und Konzernmanager lassen sich nicht streng von den vermögenden Großaktionären trennen. Beide sind durch die Eigentumsverhältnisse und Privilegien eng miteinander verflochten. Hinzu kommt der gehobene Lebensstil. Er wirkt ebenfalls verbindend. Manager und Eigentümer finden in Verbänden, politischen Gremien und Klubs zusammen. Sie besuchen gleiche Bildungsstätten. Und die Dominanz großer Firmen hat zu unpersönlichen Besitzverhältnissen geführt. Das gewährt einzelnen Managern einen Machtgewinn. Sie stehen auch in den Medien im Vordergrund. Eine eigentliche „Wachablösung“ der Vermögenden durch eine eigene „Klasse der Manager“ lässt sich jedoch nicht nachweisen.
Ueli Mäder hält am Montag, 30.4.2012 um 19.30 im Zeughaus 5 im Rahmen der Reihe „Crash-Kurs Marxismus“ einen Vortrag, in dem er erste Ergebnisse der erwähnten Untersuchung vorstellt. Weitere Crash-Kurse sind im Programm aufgeführt.